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ARCHITEKTUR UND MUSIK
„ Architektur ist erstarrte Musik “
Johann Wolfgang von Goethe
„Proportio est ratae partis membrorum
in omni opere totoque commodulatio.“
Ebenmaß liegt vor, wenn den Teilen am ganzen
Werk und dem Gesamtwerk ein berechneter Teil
als gemeinsames Grundmaß zu Grunde gelegt ist
Vitruv, in De Architektura III, 1
Die Sprache der Architektur und der Musik haben viele Gemeinsamkeiten. Der Architekt wird als Dirigent aller am Bau Beteiligten bezeichnet. Er muß ein Heer von Handwerkern dirigieren, für den richtigen zeitlichen Einsatz sorgen, er gibt die Tempi an, er ist verantwortlich für den harmonischen Ablauf der Bauarbeiten; das fertige Bauwerk kann eine Symphonie aus Formen, Schwingungen, Rhythmus, Intervallen und (Klang)Farben sein.
Architektur kann wie ein Paukenschlag wirken. Sie kann aufwecken, neue Perspektiven eröffnen, befreien, Wohlgefühl hervorrufen, aber auch erschrecken, zur Einkehr und Besinnung aufrufen.
Der Architekt wie der Komponist ist auf andere angewiesen. Seine Idee, sein Werk, sein Opus kann nur vollendet werden durch die Mithilfe vieler fleißiger Hände und durch die Arbeit und vielleicht auch Mühsal derjenigen, die bereit sind, an seinem Werk mitzuwirken.
Im Gegensatz zu Musik ist Architektur für die Dauer bestimmt. Aber trotzdem sehe ich auch hier Gemeinsamkeiten. Musik ist nur erkennbar durch den Abstand der zuvor gehörten Töne, ist also auf das Vorhergegangene angewiesen., genauso wie sich Architektur nur aus dem Vorhergebauten, der Bau-und Kunstgeschichte und aus dem Zusammenspiel mit anderen Gebäuden erfassen läßt.
Musik hängt aber auch unmittelbar mit Architektur zusammen, ja, sie kann Räume prägen und fühlbar machen. Mir ist das kürzlich bei einem Orgelkonzert im Altenberger Dom wieder klar geworden. Räume unterstützen einerseits die Musik, aber sie werden andererseits auch durch Musik geformt.
Es ist eigentlich kein Wunder, daß große Geiger gern auf alten, schon benutzten Instrumenten, etwa einer Stradivari oder Amati spielen. Im Laufe der Zeit hat sich der Klangkörper verschönt, die ständigen Schwingungen der Saiten und Töne haben die Instrumente bzw. die Räume geformt und haben sie weicher und klangvoller gemacht. Auf diese Weise haben Instrumente wie auch Räume einen eigenen Charakter bekommen.
Die Klosterkirche in Amelungsborn, von den Zisterziensern erbaut, hat durch den Gesang der Mönche, die nach der Reformation evangelischen Gottesdienste, die liturgischen Feiern, die Gebete und die trotz Kriegsschäden und Wiederaufbau ständige Benutzung eine eigene Raumqualität gewonnen, die auch heute noch unmittelbar spürbar ist; so tönt in diesem Raum die Musik und der gregorianische Gesang der Stundengebete anders als in einem noch so gut akustisch hergerichteten Tonstudio.
In Architektur und Musik finden wir ein ähnliches dialektisches Prinzip, mathematische Strenge, und geheimnisvolle, vieldeutige Zweideutigkeit, Sinnlichkeit und Ordnungsbeziehungen,
Berechnung und Abstraktion. Musik und Architektur sind ein Tun, das Vorschriften gehorcht, als ein mit dem Bereich des verantwortlichen menschlichen Handelns zusammenhängendes Phänomen.
Es ist wohl kaum zu erklären, warum jedem Ton oder besser jeder Tonart eigentlich ein bestimmter Charakter anhaftet. Diese Tonarten-Charakteristik ist uns allen bekannt, z. B. Es-dur in der Eroika von Ludwig von Beethoven, G-dur und c-moll im wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach oder die Kirchentonart F-dur.
Proportion und Harmonie, das Verstehen und Begreifen von Musik und Architektur gelangt auf verschiedenen oft nicht zu erklärenden Wegen in unser Bewußtsein und wird als erhebende und befreiende Schönheit empfunden. Einer dieser Wege könnte die Tradition sein und daraus können Architekt und Musiker nur lernen. Sie müssen das Bewußtsein haben oder wieder erwerben, daß sie in einem historischen Zusammenhang arbeiten, daß die Nutzer oder Hörer von Architektur und Musik aus tradierten Lebensbereichen kommen, und daß diese ganz bestimmt nicht immer das Neue und noch nie Dagewesene wollen, sondern daß ihnen das Ererbte und
Überkommene vertrauter und damit auch lieber ist.
Es besteht die Gefahr, daß sich moderne Architektur und auch Musik zu einer Kunst und Kultur entwickelt oder schon entwickelt hat, die nur noch für einen kleinen Expertenkreis schön und verständlich ist, und vermutlich von der Mehrheit der Menschen aber nicht gewünscht wird.
Die heutige Nostalgiewelle ist sicher nicht unbegründet. Das Restaurieren und leider auch manchmal die Rekonstruktion historischer Bauwerke und Stadtkerne, das Spielen auf originalgetreu nachgebauten oder nachempfundenen Instrumenten zeigen Verwandtschaft. Welche Interpretation oder Rekonstruktion dem Komponisten oder Baumeister am besten entspricht, läßt sich oft gar nicht oder nur mit schwachenArgumenten belegen.
Ich meine, trotz aller vielleicht berechtigten Nostalgie sollten gerade jetzt die sicher reichlich vorhandenen schöpferischen Kräfte wieder geweckt und nicht dazu mißbraucht werden.
Neues historisch zu bauen und nachzuempfinden, sondern sie sollten das in Jahrhunderten entstandene Architektur- und Musikverständnis behutsam in die Gegenwart transponieren. Das langsam gewachsene Alte und das gute qualitätsvolle Neue können im Zusammenhang durchaus tönende Harmonien und Proportionen bilden.
Ich halte es für durchaus denkbar und auch richtig, die Werke historischer Komponisten zeitgemäß aufzuführen und dadurch vielleicht sogar das musikalische Erlebnis zu steigern.
Ich finde es richtig und wichtig, daß in der Architektur auf den historischen Formen- kanon zurückgegriffen wird, aber nicht wie es jetzt leider häufig geschieht um Einmaliges und absolut Originales zu schaffen, sondern um aus der Kenntnis dieses Formenkanons sichtbar und fühlbar in der Tradition des Gewachsenen zu bleiben.
Vielleicht besinnen sich die Architekten wieder auf die Kunst der Fuge oder auf den Aufbau einer Sonate und lernen wieder Variationen über ein Thema zu zeichnen und zu bauen.
Renaissance und Humanismus haben räumliche und musikalische Verhältnisse gleichgesetzt. Die Musik wurde als die Mutter aller Künste bezeichnet. Für den Architekten der Renaissance war es eine "Condifcio sine qua non" Musik zu studieren.
Die derzeitige Disharmonie und Unlust in und an der gebauten Umwelt liegt sicher auch daran, daß uns allen - nicht nur den Architekten - das musische Empfinden zum Teil verlorengegangen ist. Die musischen und kreativen Fähigkeiten werden viel zu wenig gefordert und gefördert. Die wichtigen Entscheidungen werden häufig von unmusischen Menschen gefällt, von Technokraten, Datenfetischisten oder Umweltmechanikern, in deren Kostennutzen-Analysen das musische Element völlig fehlt. Ich glaube, daß sich zur Zeit eine gewisse Rückbesinnung auf den Humanismus, auf musische und geistige Wertvorstellungen feststellen läßt, in der Architektur scheint diese Hoffnung nicht ganz unberechtigt zu sein.
Der Humanist Alberti, gleichzeitig Schriftsteller und Künstler definiert in seinen 10 Büchern über die Baukunst die ästhetische Erscheinung eines Bauwerks als Harmonie und Einklang aller Teile so, daß ohne Schaden nichts hinzugefügt
oder weggenommen werden kann. Alberti zufolge ist Schönheit eine Harmonie, die dem Bauwerk innewohnt, aber eine Harmonie, die nicht ein Ergebnis künstlerischer Phantasie sondern vernunftgemäßer Überlegung ist. Das Hauptmerkmal dieser Schönheit und Harmonie ist die klassische Idee, ein streng folgerechtes Proportionssystem in allen Teilen eines Bauwerks durchzuführen. Und der Schlüssel zu korrekter Proportionierung liegt nach Alberti seit Pythagoras in dem System der musikalischen Harmonie.
Pythagoras hat vor etwa 2.500 Jahren entdeckt, daß Töne räumlich gemessen werden können. Er hat gefunden, daß Tonhöhen durch die Maßverhältnisse von kleinen ganzen Zahlen bestimmt sind. Bringt man zwei Saiten unter gleichen Bedingungen zum Schwingen, von denen die eine halb so lang ist wie die andere, dann ist der Ton der kürzeren Saite um eine Oktave höher als der der längeren. Wenn die Saiten-längen im Verhältnis 2 : 3 stehen, dann ist das Tonintervall eine Quinte und bei einem Verhältnis 3 : 4 eine Quarte. So können die Intervalle, auf die das Tonsystem sich gründet, durch die Zahlenreiche 1:2:3:4 ausgedrückt werden. Mit dieser Entdeckung glaubte man, die geheimnisvolle Harmonie in den Händen zu halten, die das Weltall durchdringt. Auf dieser Entdeckung beruht ein großer Teil der Zahlensymbolik und -Mystik. In den beiden geometrischen Zahlen-Reihen 1, 2, 4, 8 und 1, 3, 9, 27 wurde der geheime Rhythmus des Makrokosmos und auch des Mikrokosmos gesehen.
Während der Renaissance-Epoche war es durchaus üblich, zur harmonischen Klärung der Raumverhältnisse musikalische und räumliche Verhältnisse gleichzusetzen. Die kleinsten Elemente in die die ganze Einheit einer Wand zerlegt werden konnte, waren die reinen Intervalle der Tonleiter, in denen die Harmonien des Weltalls tönen.
Es ist häufig versucht worden, bei historischen Bauten die bewußte Anwendung eines Proportionssystems nachzuweisen; und die Versuchung liegt sicher nahe, mit Maßstab und Zirkel gerade diejenigen Verhältnisse zu finden, die man sucht. Aber selbst wenn der schöpferische Architekt diese Maßverhältnisse nicht bewußt angewandt hat oder anwendet, so zeigen solche Untersuchungen doch, daß Harmonie und Schönheit durchaus durch Proportionsverhältnisse nachzuweisen sind und zwar durch Proportionen, die genau wie die Noten und Töne in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen.
Die Renaissance wollte sicher nicht Musik in Architektur übersetzen, sondern war eher der Meinung, daß die reinen Intervalle der Tonleiter ein Beweis für die Schönheit dieser Verhältnisse sei. Den Glauben an die Wirksamkeit musikalischer Relationen in der Welt der Erscheinungen hat Leonardo da Vinci mit besonderer Überzeugung ausgesprochen. Ich erinnere etwas abgewandelt an sein bekanntes Wort, daß die Musik die Schwester der Malerei sei, denn Musik und Architektur vermitteln Harmonien, Musik durch die Akkorde, Architektur durch Proportionen. Musikalische Intervalle und Linearperspektive sind denselben Zahlengesetzen unterworfen.
Zum Schluß zitiere ich nocheinmal Vitruv, gewissermaßen als "Captatio benvolentiae", und zwar deshalb, weil in diesen Ausführungen vieles unvollständig und oberflächlich bleiben mußte. Es fehlen Gedanken über den Rhythmus, den goldenen Schnitt, den Modulor nach Le Corbusier, über die Zwölfton-, die serielle-, elektronische-, und Popmusik, über Proportionsverhältnisse in der Natur, den Atomen und Kristallen, über den Kanon des Menschen und noch vieles mehr.
Vitruv schreibt im I. Buch der "Zehn Bücher über Architektur", Kapitel 1, mit dem Thema "Die Ausbildung des Baumeisters":
Da der Architekt von Beruf aber in allen Wissenschaftszweigen geschult sein muß, und da die Fassungskraft mit Rücksicht auf den Umfang des Stoffes es nur gestattet, daß er über das notwendige Maß hinaus nicht die höchsten, sondern nur mittelmäßige Kenntnisse in den Wissenschaften besitzt, bitte ich Dich, Cäsar, und die Leser dieser Bücher um Nachsicht.
Hanns Hoffmann
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